Stuttgarter Erklärung der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen von Bund und Ländern zum Recht auf inklusive schulische Bildung vom 14. November 2014
Das Recht auf inklusive Bildung
Inklusive Bildung ist ein zentrales Anliegen der in Deutschland vor über fünf Jahren durch Bundesgesetz eingeführten UN-Behindertenrechtskonvention und beinhaltet das Recht auf gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen im allgemeinen Bildungssystem. In der aktuellen Diskussion zur Weiterentwicklung des föderalen Bildungssystems im Lichte dieses unteilbaren Grund- und Menschenrechts wird die sich hieraus ergebende normative Verpflichtung nur teilweise und viel zu zögerlich umgesetzt. Unterschiedliche Aufgaben-, Finanzierungs- und Personalverantwortlichkeiten bei den am Bildungsprozess Beteiligtenund daraus resultierende komplexe Fragender Ressourcenverantwortlichkeit stehen der gebotenen Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung und Teilhabe insbesondere im schulischen Bereich noch immer entgegen. Eltern von Kindern mit Behinderungen, die sich für ein inklusives Bildungsangebot entscheiden, müssen sich ihre Rechte vielfach vor Gericht erstreiten.
Inklusion im Bildungsbereich nach Artikel 24 UN-Behindertenrechtskonvention be-deutet, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, ihre Potenziale und Fähigkeiten im allgemeinen Bildungssystem entwickeln zu können.
Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Beschulung aller Schülerinnen und Schüler in einer Regelschule müssen Eltern bzw. die jungen Menschen mit Behinderungen ein Wunsch- und Wahlrecht zur Bestimmung des Lernortes haben.
Die Rahmenbedingungen, die schulgesetzlichen Regelungen und die bislang realisierten Angebote inklusiver schulischer Bildung gehen in den einzelnen Bundesländern noch weit auseinander. Aus diesem Grund bekräftigen bzw. fordern die Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder am 14. November 2014 in Stuttgart anlässlich ihrer Herbsttagung folgendes:
1. Von der Inklusion im Bildungswesen profitieren Kinder mit und ohne Behinderung gleichermaßen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dann trägt das gemein-same Lernen entscheidend dazu bei, die Bildungsqualität zu steigern. Inklusion in der Bildung stellt die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Lernenden in den Mittelpunkt und begreift Vielfalt als Ressource und Chance für Lern- und Bildungspro-zesse. Inklusive Bildungsangebote sind Ausdruck einer „Willkommenskultur für alle“ und fördern das soziale Lernen als zentrale Weichenstellung für inklusives Denken und Handeln für alle Lebensbereiche. Deshalb setzen wir uns für ein inklusives Schulsystem ein. Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen sollen vor Ort selbstverständlich die gleichen Schulen besuchen können.
2. Inklusive Bildung erfordert offeneUnterrichtsgestaltung in der Form des zielgleichen und zieldifferenten Lernens, strukturelle und inhaltliche Anpassungen der schulgesetzlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen sowie die Bereitstellung hierfür notwendiger Ressourcen. Individuelle Förderung und Lernen in heterogenen Gruppen sind die Grundlage für eine inklusive persönliche und gesellschaftliche Entwicklung und damit für eine volle und wirksame Teilhabe in allen Lebensbereichen.
3. Die Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung bzw. die Schaffung eines durchgängig inklusiven Bildungssystems ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems sind somit alle gemeinsam verantwortlich. Bund, Länder, Kommunen und die Zivilgesellschaft sind gefordert, ihren Beitrag zu leisten, um einstellungs- und umweltbedingte Barrieren abzubauen sowie Inklusion als Leitbild im Bildungsauftrag und der Bildungspraxis zu etablieren. Hierfür brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens und die Bereitschaft bei den Verantwortlichen auf allen Ebenen, die angemessenen Vorkehrungen zu schaffen. Diese Herausforderung gilt für die frühkindliche Bildung in gleicher Weise für alle schulischen Angebote der Primarstufe sowie für die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II einschließlich der berufsbildenden Schulen.
4. Ein inklusives Bildungssystem kann es nicht zum Nulltarif geben. Bund, Länder und Kommunen werden aufgefordert, für die Neuausrichtung und Weiterentwicklung der noch immer separierenden Bildungsangebote für Menschen mit Behin-derungen die notwendigen finanziellen Mittel zusätzlich bereitzustellen und diesem Schulentwicklungsprozess, entsprechend der Verpflichtung durch Artikel 4 Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention, unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel höchste Priorität einzuräumen.
5. Der Bund wird aufgefordert,
- sich für eine Aufhebung des 2006 für den Bereich der Bildung in die Verfassung eingefügtenKooperationsverbotseinzusetzen. Der Bund muss sich zu seiner Verantwortung für Inklusion als Vorhaben von überregionaler Bedeutung bekennen und sich auch im Bereich der Schule dauerhaft mit einem finanziellen Beitrag engagieren können
- ein Programm zum Ausbau einer umfassend barrierefreien Infrastruktur im schulischen Bereich aufzulegen
- die zugesagte finanzielle Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro pro Jahr unmittelbar mit der Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen und damit mit der Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verbinden und
- den Gesetzentwurf für ein Bundesteilhabegesetz so rechtzeitig vorzulegen, dass dieses spätestens zum 1. Januar 2017 in Kraft treten kann.
6. Die Länder werden aufgefordert,
- sich – auch in der KMK – auf länderübergreifende gemeinsame Ziele und Standards für Rahmenbedingungen, Organisation sowie Lehr- und Lerngestaltung als Grundlage für ein durchgängig inklusives Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen zu verständigen
- sich für gleiche Bildungschancen auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen einzusetzen
- in den Schulgesetzen zügig das Recht auf inklusive Bildung zu verankern und möglichst konkret zu regeln
- dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, Vorrang einzuräumen
- die Schulträger zu einer inklusiven Schulentwicklungsplanung zu verpflichten
- die pädagogische Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle Schularten an den Anforderungen eines inklusiven Bildungssystems auszurichten und die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen an die inklusive Pädagogik anzupassen
- Bildungs- und Lehrpläne sowie die Leistungsbewertung für den zielgleichen bzw. zieldifferenzierten Unterricht im Sinne eines inklusiven Bildungssystems zu gestalten.
7. Die Kommunen werden aufgefordert,
- sich ihrer Verantwortung für ein inklusives Bildungssystem zu stellen
- die Schulentwicklungsplanung inklusiv auszurichten
- die Barrierefreiheit von Bildungseinrichtungen zu gewährleisten, damit die Grundlage für inklusive Bildungsangebote im Sozialraum geschaffen wird
- die kommunalen Strukturen in die inklusive Bildung einzubinden und insbesondere im Bereich der Eingliederungs- und Jugendhilfe die notwendigen Assistenzen unbürokratisch zu bewilligen
- die Verankerung des Rechts auf inklusive Bildung in den Schulgesetzen der Länder aktiv zu unterstützen und
- die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderungen an durchgängig inklusiven Bildungsangeboten nicht durch eine übermäßige Berufung auf eine Konnexität einzuschränken.
8. Die Beauftragten des Bundes und der Länder appellieren an alle Verantwortlichen für und in den Schulen, dass Inklusion eine Aufgabe aller Schulen und aller Schularten ist. Nur in gemeinsamer Verantwortung und mit gemeinsamem Handeln wird das große und großartige Vorhaben gelingen, ein inklusives Schulsystem zu schaffen und Sonderwelten für Menschen mit Behinderungen zu überwinden.
9. Wir stellen fest, dass das Recht auf inklusive Bildung für Menschen mit Behinderungen nach der UN-Behindertenrechtskonvention weit über den Bereich der schulischen Bildung hinausgeht und insbesondere die Bereiche frühkindliche Bildung, die berufliche Bildung, das Hochschulwesen, die Erwachsenbildung sowie alle Bildungsangebote und Bildungseinrichtungen im Sinne des lebenslangen Lernens umfasst.