Neues Lehrerbildungsgesetz auf den Weg gebracht – kritischer Kommentar von Frieder Bechberger-Derscheidt

Inklusive Lehrkräftebildung für ein segregierendes Schulsystem – Ein Widerspruch wird Gesetz!

Das „Gesetz zur Stärkung der inklusiven Kompetenz und der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften“, das die Rot-Grüne-Koalition jetzt auf den Weg gebracht hat, setzt leider die Tradition dieser Landesregierung fort, im Bildungsbereich gerade mal das unbedingt Unumgängliche zu tun. Eine offensichtliche Pflichtübung zur Erfüllung des Koalitionsvertrags in einer langsam zu Ende gehenden Legislaturperiode wird Öffentlichkeit und Parlament vorgelegt. Immerhin: Der Titel des Gesetzes ist in seiner Zweiteilung zwar ziemlich sperrig, aber weckt auch Erwartungen und Hoffnungen, schulische Inklusion voranzubringen, sie schneller umzusetzen. Denn die Hauptakteure in diesem Prozess, die Lehrerinnen und Lehrer, sollen „in allen Phasen der Lehrkräftebildung“ darin gestärkt werden, „gemeinsamen und individuell fördernden Unterricht (inklusiven Unterricht)“ erteilen zu können.

Nach der Schulgesetznovelle des vergangenen Jahres, von der keineswegs mit Recht behauptet werden kann, wie das in der Begründung des nun vorgelegten Gesetzes ziemlich vollmundig festgestellt wird, sie habe den „Anspruch“ der UN-BRK, ein „inklusives Schulsystem“ zu ermöglichen, bereits „umgesetzt“, folgt hier also der zweite und notwendige  Schritt. Mit Hilfe dieser bisher noch fehlenden Rechtsgrundlage soll das Ziel schulischer Inklusion durch den entsprechenden Kompetenzerwerb des lehrenden Personals schneller erreicht werden.

Ein großer  Schritt, ein Trippelschritt oder gar ein Schritt zurück? Das vielleicht nicht, aber auch kein Schritt, aus dem erkennbar würde, wie sich diese Koalition die Zukunft der Lehrerbildung vorstellt. Es wird eine Leerstelle gefüllt – mehr nicht –, die die UN-Behindertenrechtskonvention zu füllen verlangt – nach sage und schreibe sechs Jahren Rechtskraft dieser Konvention!

Man hat dabei das ungute Gefühl, da der Gesetzentwurf  ja schon einige Jahre angekündigt war, dass die lange Suche nach der Möglichkeit, kein Gesetz vorlegen zu müssen, ergebnislos blieb, ja, bleiben musste. Also kommt man mit der kleinstmöglichen Münze, um das Gesicht zu wahren. Nichts Grundlegendes ändert sich, außer dass in den Ausbildungsphasen als Anforderung an passender Stelle die Formulierung gewählt wird, die „Lehrkräfte für den gemeinsamen und individuell fördernden Unterricht (Inklusiven Unterricht)“ fit zu machen. Letztendlich wird lediglich der Status quo der bestehenden Lehrerbildung mit all ihren unsäglichen Hierarchien bestätigt. War sie bisher weitgehend durch Verordnungen geregelt, so wird sie jetzt durch ein Gesetz grundgelegt, in dem jedoch auch viel zu viel Kleinkram geregelt wird.

Der Auftrag für Hochschulen, Studienseminare und Lehrkräftefortbildung liegt nun also darin, ihre Ausbildungsinhalte um das „Modul“  „Befähigung von Lehrkräften zum gemeinsamen und individuell fördernden Unterricht (inklusiven Unterricht) von Schülerinnen und Schülern“ zu erweitern. Das ist notwendig, überfällig und auch selbstverständlich. Denn diese Anforderung für den schulischen Unterricht, Kinder individuell zu fördern, galt prinzipiell schon immer und wurde vor 11 Jahren in der Schulgesetznovelle von 2004 im § 10, Abs. 1, erstmals und endlich durch den Satz kodifiziert.: „Jede Schulart und jede Schule ist der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler verpflichtet.“ Dennoch sind wir von einer Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgabe in allen Schularten bis auf den heutigen Tag noch meilenweit entfernt. Nachdem sich seitdem am Bildungssystem mit all seinen institutionellen Hürden, die den schulischen Alltag prägen, grundsätzlich nichts geändert hat, darf bezweifelt werden, ob sich mit diesem Gesetz in den Köpfen aller Beteiligten etwas mit Blick auf den neuen Wert „Inklusion“ bewegt wird?

So bleibt auch für die Phasen der Lehrkräftebildung weitgehend alles beim Alten und damit auch für die Betroffenen. „Eine Verzahnung von erster, zweiter und dritter Phase der Lehrkräftebildung“ soll zwar geschaffen werden. Wie die daraus zwingenden Kooperationen der einzelnen Ausbildungsphasen funktionieren sollen, bleibt im Gesetz jedoch unklar.

Immerhin: “ Eines der beiden Orientierenden Praktika findet in der Regel an einer Schwerpunktschule statt.“ Warum „in der Regel“? Warum wird hier nicht ohne Wenn und Aber festgelegt, dass keine künftige Lehrkraft ohne diese Erfahrung in den Schuldienst darf? Soll hier erneut für Widerständige ein Schlupfloch offen gehalten werden?

Durch den zweiten Teil der Gesetzesüberschrift soll der Lehrkräftefort- und –weiterbildung  mehr Gewicht beigemessen werden, wobei die wichtigste Neuerung darin zu  bestehen scheint, dass nun in § 9 die „Verpflichtung zur Fortbildung“ festgeschrieben wird. Das ist gut so, wenn auch nicht wirklich neu; denn im Beamtengesetz war dies schon immer geregelt, wurde nur so gut wie nie eingefordert.

Dass die einzelnen Lehrkräfte künftig ein „Fortbildungsportfolio“ (§ 10) führen müssen, und die Fortbildung „dem Prinzip der Nachhaltigkeit“ (§ 7 (1)) folgen soll, lässt bestenfalls wegen der verwendeten Begrifflichkeit aufhorchen. Dass neu ins Amt gekommene Schulleiterinnen und Schulleiter sich ebenfalls fortbilden müssen, ist in der Tat eine Neuerung, die jedoch insofern ein bisschen quer erscheint, als eine vorgelagerte Qualifizierung für ein Leitungsamt, also eine Vorbereitung darauf, notwendiger erscheint. Dies könnte dann ein wesentliches Kriterium dafür sein, eine Lehrkraft in ein Leitungsamt zu berufen, die sich selbstverständlich dann auch in der neuen Funktion fortbilden sollte.

Eine weitere „Nichtneuerung“ ist das im Angebot des Gesetzes befindliche „Fortbildungsbudget“ (§ 13), denn es gehörte bereits zum Schulversuch „Selbstverantwortliche Schule“, als dieser 2005 gestartet und 2011 erneuert wurde. Allerdings wird das „Budget“ nicht garantiert, sondern mehrfach eingeschränkt, denn es wird nur nach „Maßgabe des Haushalts“ bzw. nur „gemäß haushaltsrechtlicher Vorgaben zur Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt“, also so gut wie nie, ist zu befürchten angesichts der großen Haushaltsprobleme dieses Landes.

Wie sehr das Gesetz insgesamt unter rigidem Haushaltsvorbehalt steht, kann in der Begründung nachgelesen werden. Dort ist unmissverständlich formuliert, dass nicht ein zusätzlicher Euro für die Lehrkräftefort- und –weiterbildung zur Verfügung gestellt werden wird. Dass Mehrkosten entstehen, vor allem durch die „verpflichtende Fortbildung für neu ernannte Schulleiterinnen und Schulleiter“, wird dort nicht bestritten. Dafür aber gibt es kein zusätzliches Geld, sondern diese Mehrkosten müssen „durch Umschichtungen innerhalb des Systems der Lehrkräftefort-  und –weiterbildung nach Maßgabe des Haushalts abgedeckt“ werden. D. h. schlicht, an anderer Stelle muss eingespart, sprich reduziert werden.

„Die Fort- und Weiterbildung (erlangt) ein immer größeres Gewicht“, heißt es in der Begründung, oder noch grundsätzlicher wird formuliert, dass „die inklusive Kompetenz der Lehrkräfte in allen Phasen der Lehrkräftebildung zu stärken“ sei – ja, kann man da nur zustimmend rufen, aber dann muss auch das nötige Geld bereitgestellt werden. „Umschichten“ in einem ohnehin gerupften Fortbildungsetat stellt die Ernsthaftigkeit der Gesetzesformulierer in Frage und gefährdet das Ziel des Gesetzes.

Die seit mehr als 100 Jahren bestehenden ungleichwertigen Lehrämter werden nicht angetastet. Der Gesetzentwurf hält vielmehr an einer überkommenen Ausbildung und damit an einem ebenso überkommenen Laufbahnrecht fest, das schon lange mit der Schulwirklichkeit kollidiert – siehe die Auseinandersetzung um die Bezahlung von Hauptschullehrkräften an Realschule plus und IGS, ein seit mehr als 40 Jahren schwärendes Ärgernis.

Dieser Gesetzentwurf hätte nach der Umstellung der Lehrkräftebildung auf das Bachelor-/Mastersystem die zweite Chance werden können, mit diesem Anachronismus aufzuräumen. Stattdessen werden, bei gleichem gesetzlichen Auftrag für alle Lehrerinnen und Lehrer, weiterhin mit krampfhaftem Bemühen der Politik unterschiedlich lange Lehramtsstudiengänge aufrechterhalten, um Lehrerinnen und Lehrer unterschiedliche Besoldungsstufen zuordnen, ja sogar unterschiedliche Deputate rechtfertigen zu können.

Es ist also nur konsequent: Wer am selektiven Schulsystem festhält, muss auch an ungleichwertigen Lehrämtern festhalten und kann folglich kaum andere Gesetze für Schule und Lehrkräftebildung formulieren und beschließen als diese.

Wie in einem  solchen Rahmen die Verpflichtung aller Vertragsstaaten durch die UN-BRK (Art. 24 (1)) erfüllt werden soll, „ein inklusives  Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu gewährleisten, bleibt ein Rätsel. Dies kann nicht durch wiederholte Lippen- „Bekenntnisse zur UN- Behindertenrechtskonvention“ gelöst werden, wie sie im Begründungstext mehrfach zu finden sind, sondern nur durch den politischen Willen, wirklich ein „inklusives Schulsystem“ anzustreben. Dass dieser nur schwach ausgeprägt ist, kann auch daran erkannt werden, dass – wie auch schon bei der Schulgesetznovelle – immer wieder auf die Komplexität der Umsetzung der UN-BRK hingewiesen wird, die „längerfristig und schrittweise angelegt“ sei. Dabei wird zur Rechtfertigung dieser Zögerlichkeit  der Artikel 4, Abs.2 der Konvention herangezogen und von einem dort formulierten „Vorbehalt der progressiven Realisierung“ gesprochen – auf solche Formulierungen muss man erst mal kommen. Der Artikel 4 der UN-BRK benennt in seinem langen ersten Absatz sehr grundsätzliche Anforderungen an die Vertragsstaaten. Im zweiten Absatz steht dann die Formulierung, wonach sich die Vertragsstaaten verpflichten, „…Maßnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen…“ Darauf bezieht sich wohl  das Ministerium mit seiner kruden Aussage des „Vorbehalt(s) der progressiven Realisierung“. Der Satz geht jedoch folgendermaßen weiter, „unbeschadet derjenigen Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind“. Und fordert eingangs zudem, dass der Vertragsstaat „unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel“ verpflichtet ist, die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ Behinderter zu gewährleisten. Es ist doch wohl klar, dass das Völkerrecht auf Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem nirgendwo umfassend angewandt wird. Und ebenso klar ist, dass längst nicht alle „verfügbaren Mittel „ ausgeschöpft sind, Inklusion zu realisieren. Von der immer wieder vorgetragenen Rückzugsposition des „Vorbehalts progressiver Realisierung“ bleibt also nicht viel übrig. Sie ist vielmehr eine Ausrede, wirklich nur das Nötigste zu tun, mehr nicht.

Mit solchen Vorbehalten wird der Inklusionsprozess nicht vorangetrieben, sondern auf die lange Bank geschoben.

Was dafür zu tun wäre, liegt auf der Hand und ist gerade wieder vom UN-Fachausschuss in Genf, der die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den einzelnen Ländern überprüft, für Deutschland angemahnt worden. Die UN fordern Deutschland zum wiederholten Mal nachdrücklich auf, sein segregierendes und exkludierendes Bildungssystem umzubauen in ein inklusives System, um Chancengleichheit zu ermöglichen. Es genügt vielleicht aber auch, die eigene Programmatik anzuschauen. Dort können beide Koalitionsparteien nachlesen, was sie seit Jahren beschlossen, aber offensichtlich vergessen haben. Aber Papier, ob rot oder grün beschriftet, scheint in jeder Hinsicht geduldig.
Frieder Bechberger-Derscheidt ,Vors. der Unabhängigen, rheinlandpfälzischen Initiative  EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e. V.
KL, 12. 5. 2015